Musik in den Ghettos und Lagern der Nazis

Nach der Machtübernahme begann das NS-Regime mit dem Aufbau eines ausgedehnten Netzes von Internierungslagern verschiedener Kategorien. In den zwölf Jahren der NS-Herrschaft wurden Millionen von Männern, Frauen und Kindern unterschiedlichster Herkunft und Nationalität aus politischen, religiösen, ethnischen, sozialen und ideologischen Gründen in verschiedene Lager gesperrt.Die Orte der Inhaftierung reichten von Gefängnissen bis zu Arbeits- und Umsiedlungslagern, von Internierungslagern bis zu Zwangsarbeitslagern und Straflagern, von Speziallagern bis zu Ghettos und Konzentrationslagern (Haftanstalten, Arbeits-, Polizeihaft-, Durchgangs-, Internierungs-, Zwangsarbeits-, Strafgefangenen-, Sonder-, Ghetto- oder Konzentrationslager).Für Kinder und Jugendliche wurden sogenannte Ausländerkinderpflegestätten, Germanisierungs- und Jugendschutzlager errichtet.  Gefangene feindliche Truppen wurden in Kriegsgefangenenlagern interniert.  Wieder andere Orte und Lager, wie die Vernichtungslager, hatten den alleinigen Zweck der Massentötung von Menschen.

Es ist wahrscheinlich, dass es in den meisten der etwa 10.000 Nazilager irgendeine Form von Musik gab.  Die Unterscheidung zwischen ihnen ist keine Verharmlosung, sondern eine notwendige historische Differenzierung, die von Überlebenden oft betont wird.  In seinen Memoiren Schreiben oder Leben weist Jorge Semprún darauf hin, dass "der wesentliche Bestandteil" aller Nazilager "derselbe war."  Das war

die tägliche Routine, der Arbeitsrhythmus, der Hunger, der Schlafentzug, die unaufhörlichen Schikanen und der Sadismus der SS, der Wahnsinn der älteren Häftlinge, die blutigen Kämpfe um die Kontrolle der kleinsten Teile der internen Macht.

Er schreibt aber auch, dass "die Deportierten den spezifischen Bedingungen ihres jeweiligen Lagers unterworfen waren."

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kategorie des Lagers und seine individuelle Geschichte nicht nur für die Überlebenschance der Häftlinge entscheidend war, sondern auch für ihre Freiheit, an kulturellen Aktivitäten teilzunehmen.

Die öffentliche Wahrnehmung von Musik in den Lagern wird vor allem mit jiddischen Ghettoliedern und Musik aus Theresienstadt in Verbindung gebracht.  Theresienstadt ist nicht, wie oft angenommen, als Konzentrationslager zu klassifizieren.Stattdessen wird es formal in die Kategorie der osteuropäischen NS-Ghettos eingeordnet, die in (jüdischen) Wohnvierteln und nicht in Barackenlagern errichtet wurden und intern von Ghetto-Polizei und Judenräten geregelt wurden.Die Judenräte waren zwar der SS unterstellt, besaßen aber relativ mehr Einfluss als die Häftlingsselbstverwaltung in den Konzentrationslagern.  Das Musizieren in den Konzentrationslagern fand unter den extremen Bedingungen der Haft statt, während die Ghettos insgesamt ein "günstigeres" Umfeld boten.Die Tatsache, dass die SS Theresienstadt als "Vorzeigelager" für die Welt nutzte, verbesserte die Situation für die Musik zusätzlich.  Sowohl quantitativ als auch qualitativ nahm die Musik in Theresienstadt eine Sonderstellung innerhalb des NS-Lagersystems ein.

Davon zeugen nicht nur Zeugenaussagen, sondern auch die vielen erhaltenen Konzertprogramme, Plakate, Eintrittskarten, Häftlingszeichnungen und Kompositionen.   Aus Theresienstadt kam Viktor Ullmanns Oper Der Kaiser von Atlantis oder der Tod dankt ab und Hans Krásas Kinderoper Brundibár, die 55 Mal in Theresienstadt aufgeführt wurde.  Diese Werke wurden weltweit aufgeführt und sind zu einem geradezu idealen Typus für die von den Nazis verfolgte und gehasste Musik geworden.  Durch ihren Erfolg ist die Nachfrage nach anderen Kompositionen und Komponisten aus den Lagern gestiegen.All dies hat der Musik aus Theresienstadt einen beträchtlichen Mythos verliehen, der nicht nur die realen Bedingungen des Musizierens in Theresienstadt zu verschleiern droht, sondern auch die Bedingungen, unter denen Musik in anderen NS-Lagern produziert wurde.

Auch in anderen Teilen des nationalsozialistischen Lagersystems wurde von Häftlingen ein reges kulturelles Leben organisiert.  Im Internierungslager von Gurs in Südfrankreich traten beispielsweise Solisten, Kammermusikensembles, Chöre und ein kleines Orchester bei Konzerten, Kabarettaufführungen, Unterhaltungsabenden und anderen Veranstaltungen auf.   Ähnlich war es im niederländischen Durchgangslager Westerbork gab es zahlreiche Chöre, ein Kamporkest (Lagerorchester) mit 30 bis 40 Musikern, ein Café mit Unterhaltungsmusik sowie Auftritte von Solisten, Kammermusikgruppen, Konzerte und Kabarettvorstellungen.Viele ironische und freche deutsche Kabarettlieder wurden für die Aufführungen der sogenannten Bühne Lager Westerbork (Weterborker Lagertheater) geschrieben.  Solche Kritik war möglich, weil der Lagerkommandant regelmäßig im Publikum saß und sich wie ein allmächtiger Kunstmäzen an solchen Frivolitäten erfreute, für die diese inhaftierten  Stars der Kabaretts und Revuen auftreten mussten. 

Im polnischen Warschauer Ghetto wurden Konzerte von einem Sinfonieorchester mit bis zu 80 Musikern gegeben.  Es gab auch Kammermusikabende, Unterhaltungs- und Varietéshows, Chorauftritte, Aufführungen in Cafés, jüdische Singspiele (musikalische Komödien) und religiöse Konzerte in Synagogen.  Ähnliche Aufführungen gab es in den Łódź(Polen) und Vilna (Litauen) Ghettos.  In Łódź zählten die Sinfoniekonzerte und die Revuen zu den herausragenden Ereignissen, während es in Vilna die Aufführungen des Ghettotheaters waren.Da alle drei osteuropäischen Ghettos zuvor Zentren der jüdischen Kultur gewesen waren, waren sie bereits für ihre Schriftsteller, Dichter und Liedermacher bekannt.Die Häftlinge konnten auf diese Traditionen zurückgreifen, um ihre kulturelle Identität zu bewahren.  Was das Schreiben von Liedern anbelangt, so waren einige der prominentesten Persönlichkeiten Shmerke Kaczerginski in Vilna, Mordechai Gebirtig, der in Krakau ermordet wurde, und Hirsh Glick, der ursprünglich aus Vilna stammte, aber in verschiedene Lager transportiert wurde.Die in diesen Nazi-Ghettos geschriebenen Lieder wurden zu einer einzigartigen Form des jüdischen Liedes, von denen viele aus der Region in andere Ghettos und Lager übertragen wurden. Einige wurden zu Widerstandsliedern, die bis heute populär sind, wie Gliks 'Zog nit keynmol' (Sag niemals nie), das als Hymne der jüdischen Partisanen populär wurde.     

Ob aus persönlichem Wunsch oder auf Anweisung ihrer Aufseher musizierten Häftlinge in anderen Lagern und anderen Lagerkategorien, z.B, Selbst in den Vernichtungslagern, in denen die Häftlinge nur so lange lebten, wie die SS sie brauchte, waren Konzerte und Lagerkapellen nicht unbekannt.  Ohne Berücksichtigung des historischen Kontextes und der jeweiligen Lagerkategorie ist es jedoch unmöglich, die unterschiedlichen Freiheiten der Häftlinge und damit die Entwicklung der musikalischen Aktivitäten in jedem einzelnen Lager zu verstehen.  Insgesamt betrachtet findet sich Musik sowohl in der Extremsituation der Konzentrations- und Vernichtungslager als auch in anderen Lagern, in denen die Bedingungen für ein differenziertes kulturelles Leben günstiger waren.  Der entscheidende Unterschied liegt in der Verwendung der Musik.  In Theresienstadt und den NS-Ghettos beispielsweise war das Musizieren in erster Linie selbstbestimmt und erfolgte selten auf direkten Befehl der Täter.Musik in den Konzentrations- und Vernichtungslagern nahm dagegen stets eine ambivalente Stellung ein.Dort diente die Musik den Häftlingen als Mittel zum Überleben und der SS als Terrorinstrument.Dort war es üblich, dass das Lagerpersonal Häftlingsmusiker für seine Zwecke einsetzte und die Musik bewusst dazu nutzte, den Willen der Häftlinge weiter zu brechen und durch das erzwungene Musizieren eine Dekulturation und Entmenschlichung herbeizuführen. Das ist eine Tatsache, die oft vergessen wird.

Von Guido Fackler

Sources

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Dutlinger, Anne Dobie (Ed.): Art, Music and Education as Strategies for Survival: Theresienstadt 1941–1945. New York 2000.

Fackler, Guido: „Des Lagers Stimme” – Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Mediographie (DIZ-Schriften, Bd. 11). Bremen: Edition Temmen, 2000, S. 437-457.

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Gilbert, Shirli: Music in the Holocaust: Confronting Life in the Nazi Ghettos and Camps. Oxford University Press 2005.

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Kuna, Milan: Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnen und Musiker aus böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1998.

KZ Musik. Music composed in concentration camps (1933–1945). Dir. by Francesco Lotoro. Rome: Musikstrasse, starting 2006 with 4 CDs (http://www.musikstrasse.it). – This cd-collection tries to record all compositions and songs created in the different nazi camps.

Lachen in het donker. Amusement in kamp Westerbork. Hooghalen/Assen 1996 (= Westerbork Cahiers, Heft 4).

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Semprún, Jorge, Schreiben oder Leben. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1995, quote on 284.

Wlaschek, Rudolf M. (Hg.): Kunst und Kultur in Theresienstadt. Eine Dokumentation in Bildern. Gerlingen 2001.

„Verdrängte Musik. NS-verfolgte Komponisten und ihre Werke” – Schriftenreihe der Berliner Intitative „musica reanimata. Förderverein zur Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponisten und ihrer Werke e.V.”, die außerdem das Mitteilungsblatt „mr-Mitteilungen” herausgibt (http://www.musica-reanimata.de).