Das Deggendorfer Liederbuch

"Deggendorf, du bist das schönste Lager für jüdische DPs"

Das Deggendorfer Liederbuch, 1945

 

 

 

Das wunderschön illustrierte "Deggendorfer Liederbuch" ist sowohl ein faszinierendes materielles Artefakt als auch ein visuelles Dokument des kulturellen Lebens und der sozialen Rehabilitation im Deggendorfer Displaced Persons Camp im besetzten Deutschland. Es wurde zu Ehren von Carl Atkin, dem ersten Direktor der United Nations Relief and Rehabilitation Administration des Lagers, als Abschiedsgeschenk erstellt; eine Live-Aufführung der darin enthaltenen Lieder war ebenfalls Teil dieser Veranstaltung. Außerdem wurde Atkin ein "Memory Book" geschenkt, das die ersten sechs Monate des Lebens der Internierten im Lager dokumentiert. Das "Songbook" und das "Memory Book" wurden schließlich dem United States Holocaust Memorial Museum geschenkt.

DP-Lager Deggendorf

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Deggendorf als mittelgroßes Displaced-Persons-Lager im Landkreis Bamberg eingerichtet, der zur amerikanischen Besatzungszone gehörte. Bei voller Kapazität beherbergte es etwa 2000 jüdische DPs, von denen viele ehemalige Häftlinge aus Theresienstadt waren. Deggendorf ist bekannt dafür, dass es eine besonders aktive Gemeinschaft von Flüchtlingen gab, die sich intensiv an sozialen und kulturellen Aktivitäten, an der Berufsausbildung und an der Rehabilitierung derjenigen beteiligten, die während des Holocausts gelitten hatten. Viele hatten nach den verheerenden Auswirkungen der Ereignisse auf jüdische Familien und Gemeinden in ganz Europa kein Zuhause mehr, in das sie hätten zurückkehren können. Letztendlich befanden sich die DPs in einer Art Schwebezustand, in dem sie mit der plötzlichen Auslöschung ihrer Vergangenheit konfrontiert waren, sich aber von ihren Kriegserlebnissen erholen mussten. Gleichzeitig mussten sie Pläne für eine oft ungewisse Zukunft in einem neuen Heimatstaat schmieden. So diente Deggendorf als sicherer Ort, an dem sich die jüdischen DPs erholen, neue Freundschaften oder Beziehungen knüpfen und Pläne für die nächsten Lebensabschnitte schmieden konnten. Wie die Häftlinge in ihrem 'Memory Book' festhielten:

"Wir haben keinen Grund, Angst zu haben. Im Gegenteil, wir können hoffnungsvoll sein. Wir sind auf dem Weg, unsere Selbstachtung wiederzuerlangen, und auf dieser Grundlage treten wir in unser neues Leben ein, in ein Leben in Freiheit."

Im Lager wurden Zeitungen herausgegeben und verteilt, eine Bibliothek, eine Synagoge, eine Theatergruppe und eine koschere Küche eingerichtet. Das jüdische Leben blühte wieder auf, trotz der schwierigen Lebensbedingungen, unter denen sich die DPs befanden. Das Lager gab sogar eine eigene Papierwährung, den "Deggendorfer Dollar", heraus und verwaltete ihn. Ebenso betrieb die Organisation für Rehabilitation durch Ausbildung eine Schule, die den DPs die Möglichkeit bot, sich in verschiedenen Berufen ausbilden zu lassen. Der erste Direktor des Lagers, Carl Atkin, trat der UNRRA bei und meldete sich am 12. April 1945 zur Ausbildung in Washington, D.C.. Am 23. August desselben Jahres führte er das UNRRA-Team 55 nach Deggendorf. Sein Auftrag war klar: Stabilisierung der Lebensmittelversorgung, Bewältigung der Überbelegung, Verbesserung der verarmten Lagerinfrastruktur, Aufbau einer demokratischen Führung und Verwaltung der Unterkünfte. Carl und sein Team bemühten sich auch, das kulturelle Leben mit Vorträgen, Konzerten und verschiedenen Aufführungen zu bereichern. Das 'Memory Book' dokumentiert:

"Die langen Jahre der Sklaverei und Diskriminierung brachten eine Gefahr der Zerstörung mit sich, und der Rest unserer Kultur stand kurz vor dem Verschwinden. Doch mit Energie und Willen machte sich eine kleine Gruppe unseres Volkes kurz nach unserer Befreiung und Ankunft im Deggendorfer Zentrum daran, unser kulturelles Leben wieder aufzubauen. Nachdem wir ein drahtloses Gerät erworben hatten, gelang es uns, ein großes Auditorium am Lautsprecher anzuschließen und Nachrichten, Konzerte, Opern usw. zu hören". 

Aufführung, Kabarett und Produktion des Deggendorfer Liederbuchs

Im Rahmen des Kulturprogramms in Deggendorf wurden nach der Einrichtung eines Konzertsaals regelmäßig künstlerische Darbietungen geplant:

"In unserem Wiederaufbauprogramm nehmen Aufführungen und Darbietungen einen breiten Raum ein. Angefangen hat es im kleinen Rahmen unter schwierigsten Bedingungen, später konnten wir inzwischen den Erholungsraum und seine Bühne umgestalten. Verschiedene Aufführungen, wie Kabaretts, literarische Abende [...] Konzerte und festliche Stunden, in Zusammenarbeit mit künstlerischen Mitgliedern unserer Gemeinde, wechselten nacheinander. Nach viel Vorbereitung, technischer und künstlerischer Arbeit wurde eine eindrucksvoll ausgestattete Revue gestartet. Der herzliche Applaus und die Beifallsbekundungen bewiesen die Freude und das Interesse an dieser Art von Darbietungen bei unseren Gemeindemitgliedern sowie bei den Ehrengästen aus der Militärregierung, der Armee und den verschiedenen UNRRA-Teams".

In Vorbereitung auf die Verabschiedung von UNRRA-Direktor Carl Atkin wurde ein besonderes Kabarettstück mit dem Titel "Leben, Lieben, Lachen" vorbereitet. Das Musical wurde von Eugen Deutsch inszeniert, Kostüme und Tanz wurden von Erna Sucher hergestellt. Für das Bühnenbild und die Ausstattung war Paul Sucher zuständig, und Durra Annemarie begleitete am Klavier. Die Produktion umfasste vier Lieder, zwei auf Deutsch und zwei auf Englisch, deren Texte und Noten dokumentiert und illustriert, in Leder gebunden und Atkin als Abschiedsgeschenk überreicht wurden. Durch die Schaffung einer physischen Aufzeichnung des Ereignisses gelang es den DPs, die flüchtige Erinnerung an das Ereignis zu bewahren, die sogar in den folgenden Jahren noch einmal aufgeführt werden könnte.

Diese Sammlung erhielt den Namen "Deggendorfer Liederbuch". Die Lieder, die den traditionellen Stil des Kabaretts verkörpern, sind kurz, unterhaltsam, komödiantisch und manchmal auch anzüglich und kokett. Die Eröffnungsnummer der Produktion, die von männlichen Darstellern in deutscher Sprache vorgetragen wurde, begann (ins Englische übersetzt): "Wir gehen spazieren, wir werden uns sicher beide bald verstehen. Pardon, Madame, so sprechen wir Sie an. Oh bitte, tanzen Sie mit mir, fangen wir gleich an: ich bin heute so gut gelaunt!"

Danach folgt ein skurriler Akt mit einem nautischen Thema, der einem traditionellen Seemannslied ähnelt, mit Zeichnungen von Frauen in Matrosenuniformen und auf Englisch gesungen: "Wir putzen und schrubben die Decks, dann verschlingen wir Speck und Eier. Wir sind immer glückliche Matrosen, wir lieben alle Mädchen, aber wir haben keinen Groschen". 

Die dritte Nummer, die ebenfalls in englischer Sprache vorgetragen wird, ist eine Hommage an das Leben im Lager, dargeboten von den "Deggendorfer Mädchen". Wie es im begleitenden "Memory Book" heißt, wurde diese Melodie zu einer Art Symbol dafür, wie sich das Leben der DPs durch den Einsatz von Atkin und seinem Team verbessert hatte:

"Deggendorf, du bist das schönste aller Lager für jüdische DPs, Deggendorf, und alle sind froh, hier zu sein. Wenn wir eines Tages von hier weggehen, singen wir alle sehr traurig: wir sehen uns in kurzer Zeit wieder bei euch".

Das Finale von "Leben, Lieben, Lachen" ist eine Art Ode an Carl Atkin und seinen unermüdlichen Einsatz für die Wiederherstellung jüdischen Lebens. Durch eine komische, liebevolle Art von Liebeslied wird er als eine heroische Figur dargestellt, vergleichbar mit Napoleon und Apollo. Letztendlich definiert das Lied, wie sehr Atkin von den DPs in Deggendorf geschätzt wurde, und seine Bemühungen um die Wiederherstellung jüdischen Lebens. In deutscher Sprache geschrieben und mit einem kleinen Porträt von Atkin illustriert, schließt das Kabarett mit folgendem Text:

"Carl, o Carl, wie ich dich liebe, o Carl, aber du siehst mich nicht [...] Wenn du im Auto vorbeirauschst wie Apollo am Morgen, bin ich verrückt vor Liebe [...] O du, Napoleon von Deggendorf, wenn du hier weggehst, bleibt mein Herz bei dir".

Vermächtnis

Wie das Schlusslied von "Leben, Lieben, Lachen" zeigt, wurde Carl Atkin neben den kreativen Bemühungen um die Erstellung des begleitenden "Deggendorfer Liederbuchs" und des "Erinnerungsbuchs" als wertvolle Abschiedsgeschenke vor allem für seine Führungsarbeit, die Verbesserung der Lebensbedingungen und die Stärkung der Moral gelobt. Einen großen Anteil daran hatte die Förderung des kulturellen und künstlerischen Lebens, die in dieser feierlichen Kabarettaufführung zum Ausdruck kam. Im Dezember 1945 verließ Atkin seinen Posten als Direktor und wurde zum Koordinator für jüdische Angelegenheiten bei der UNRRA ernannt. Die DP-Gemeinde gab ihm ein Abschiedsfest im Rahmen einer Hochzeitsfeier, bei der er bereits Trauzeuge war. In seiner neuen Funktion reiste Atkin in zahlreiche DP-Lager und beriet über viele der Verbesserungen, die er in Deggendorf angeregt hatte, darunter die Einführung von Selbstverwaltungen, Geldsystemen und Bildungseinrichtungen. Bis 1948 hatte die jüdische Gemeinde in Deggendorf 1.965 Mitglieder. Das Lager wurde schließlich am 15. Juni 1949 aufgelöst. Das "Deggendorfer Liederbuch" wurde später zusammen mit vielen anderen Dokumenten aus Carl Atkins persönlichen Sammlungen dem Archiv des United States Holocaust Memorial Museum übergeben. Und wie es auf der letzten Seite des 'Memory Book' heißt:

"Wir nehmen Abschied von dir, Carl Atkin, und nehmen es als Andenken mit nach Hause. Du wirst von uns nie vergessen werden, und wir hoffen, dass wir von dir nie vergessen werden."

Von Hannah Wilson, mit Dank an Judith Vocker für die Hilfe bei der Übersetzung.

Quellen

Das Carl Atkin gewidmete Gedenkbuch, Carl Atkin papers, United States Holocaust Memorial Museum, Zugangsnummer: 2007.162

Das Deggendorfer Liederbuch, Carl Atkin Nachlass, United States Holocaust Memorial Museum, Zugangsnummer: 2007.162

Carl Atkin, (1945, Ende November). Community spirit. Deggendorf Center Review, 2, 1.

Tovit Schultz Granoff, Einflüsse auf die Rehabilitation im Displaced Persons Camp Deggendorf, Universität Haifa, MAI 83/4(E), Masters Abstracts International, Vereinigte Staaten, 2020.

Lorrie Greenhouse Gardella, Repair the world: Groupwork in the Deggendorf Displaced Persons Center, 1945-1946, Groupwork Vol. 28(1), 8-29

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