Musik im DP-Lager Bergen-Belsen

Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen am 15. April 1945 richteten die britischen Besatzungstruppen in der nahe gelegenen Kaserne von Belsen ein Displaced Persons' (DP) Camp für Überlebende ein, das bis zum Sommer 1950 bestand. Konzerte, Theater, Tanz, Volksmusik und andere Unterhaltungsformen waren (in unterschiedlichem Ausmaß) von Anfang an präsent.

Bis Mitte Mai 1945 hatten Angehörige der britischen Streitkräfte und verschiedener Hilfsorganisationen bereits einen Musikraum eingerichtet und für die Beschaffung von Grammophonen und anderen Musikinstrumenten gesorgt. Im Sommer 1945 wurden mehrere revueartige Veranstaltungen organisiert, an denen eine Militärkapelle und Musiker aus dem DP-Lager selbst teilnahmen. Zu diesen Veranstaltungen gehörten Chöre und Tanzgruppen, eine polnisch-tschechische Lagerkapelle aus dem DP-Lager in Celle, mehrere Amateurmusiker sowie die Opernsängerin Eva Stojowska und die Geigerin Lili Mathé. Die Programme hatten einen internationalen Charakter und umfassten polnische Tänze, Partisanenlieder, russische, jiddische und hebräische Lieder, Opernarien und Tanzmusik. Im Juli 1945 traten auch mehrere ehemalige italienische Kriegsgefangene auf, die Cellistin Anita Lasker und die Sängerin Eva Steiner. Schließlich kamen bereits zu diesem frühen Zeitpunkt in der Geschichte des DP-Lagers zwei ausländische Gäste nach Bergen-Belsen: Am 27. Juli gaben Yehudi Menuhin und Benjamin Britten zwei Konzerte im Rahmen einer kurzen Tournee durch die DP-Lager.

Zu dieser ersten Phase, die man auf den Zeitraum zwischen der Befreiung im April 1945 und dem ersten Kongress der befreiten Juden in der britischen Zone im September 1945 eingrenzen kann, muss die zweite Phase hinzugefügt werden, die bis zum Sommer 1946 dauerte. Für diese Phase sind keine Informationen über musikalische Darbietungen wie die oben erwähnten überliefert. Dafür gibt es mehrere mögliche Gründe: Eine Reihe von Musikern, die in den ersten Tagen des DP-Lagers aktiv waren (darunter ehemalige Mitglieder des Frauenorchesters von Auschwitz-Birkenau, die in Belsen lebten, sowie die oben erwähnten italienischen Kriegsgefangenen), waren schnell emigriert. Andere hingegen mussten sich nach der anfänglichen Euphorie der Befreiung auf einen möglicherweise langen Aufenthalt im DP-Lager einstellen. Zu diesem Zweck und als Folge des Kongresses im September 1945 und der Wahl eines Zentralkomitees fand im Lager eine Phase der Konsolidierung statt, zu der auch die Stärkung der internen Strukturen des Lagers gehörte, zum Beispiel durch die Schaffung einer Kulturabteilung. Das Zentralkomitee initiierte ein anderes kulturelles Leben als in den ersten Monaten des Lagers, das auf jüdische Interessen ausgerichtet war. Bis zum Sommer 1946 wurde Bergen-Belsen in ein ausschließlich jüdisches DP-Lager umgewandelt.

Eine besondere Rolle in dieser Phase der Umwandlung kam dem Kazet-Theater zu, das dem Zentralkomitee unterstellt war. Es stand unter der Leitung des Schauspielers und Regisseurs Sammy Feder und bestand aus bis zu 50 Schauspielern, von denen einige bereits im Ghetto Bendin und im KZ Bunzlau Erfahrungen gesammelt und mit Feder zusammengearbeitet hatten, wie Sonia Boczkowska und Berl Friedler. Das Kazet-Theater war zunächst als Theaterschule konzipiert und hatte seine erste Aufführung im September 1945. Bis zu seiner Auflösung im Juli 1947 nach einer Tournee nach Belgien und Frankreich probte das Theater eine Vielzahl von kurzen Sketchen sowie zwei Werke von Sholem Aleichem. Im Mittelpunkt dieser Programme, die in der Tradition des jiddischen Theaters immer auch eine wesentliche musikalische Komponente enthielten, stand immer die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit, mit Verfolgung, Widerstand und Erinnerung.

Das Jahr 1946 brachte eine Ausweitung des kulturellen Lebens im DP-Lager mit sich. Eine zweite Theatergruppe wurde gegründet, die Yidishe Arbeter-Bine (Jiddische Arbeiterbühne). Unter der Leitung von Abraham Zandman studierte diese Gruppe fünf Bühnenstücke ein, die das Leben der osteuropäischen Arbeiter zum Thema hatten. Die Gruppe stand der sozialistisch-zionistischen Partei "Left Poale Zion" nahe und tourte zusammen mit einem kleinen, sechsköpfigen Musikensemble durch andere DP-Lager.

Neben dem Kazet-Theater und der Yidishe Arbeter-Bine arbeiteten und spielten in Belsen zahlreiche Theater- und Kabarettgruppen, die allerdings meist nur von kurzer Dauer waren: eine Theatergruppe polnischer Displaced Persons; eine literarisch-musikalische Gruppe, an der Kantor Moshe Kraus, Mair-Ber Gutman und Moshe Sanke beteiligt waren; eine Theatergruppe von Lagerbewohnern, die von dem Schauspieler Herman Shertser organisiert wurde; die Amatorn Grupe, die den Organisationen Agudath Israel und Mizrachi angehörte. Neben diesen Theatergruppen bildeten sich im Lager zwei Orchester: das Orchester von HaOved (Der Arbeiter) und das Jidische Amatorn-Orkester (Jüdisches Amateursorchester).

Formelle Konzerte, die von den DPs selbst organisiert wurden, gab es relativ wenige; die meisten musikalischen Darbietungen waren Teil größerer Veranstaltungen, die aus religiösen oder politischen Gründen stattfanden. Bei Beerdigungszeremonien spielte das Gebet "El male rachamim" eine wichtige Rolle, ebenso wie der Beerdigungsmarsch von Frédéric Chopin, wahrscheinlich aufgrund der polnischen Herkunft vieler DPs. Viele Veranstaltungen endeten mit dem Singen der 'Hatikva', während Lieder wie 'Zog nit keynmol' und 'Es brent' bei politischen Demonstrationen gesungen wurden, ebenso wie die zionistische 'Tech'zakna' und die 'Internationale'. Abgesehen von diesen Anlässen waren die Programme vielfältig und enthielten neben Werken klassisch-romantischen Ursprungs vor allem religiöse Lieder und Volksmusik, Chormusik und Tanzmusik. Beliebt waren auch Rezitationen und szenische Darstellungen.

Konzerte im engeren Sinne wurden in der Regel von prominenten Gastkünstlern aufgeführt. Neben den bereits erwähnten Konzerten von Menuhin und Britten können die nächsten Konzerte ausländischer Künstler erst für den Sommer 1946 bestätigt werden. Josef Butterman organisierte unter der Leitung von Günther Weißenborn zwei Konzerte eines Sinfonieorchesters aus Hannover mit dem Geiger Wolfgang Marschner, Aufführungen der Operette Wiener Blut und vor allem der Oper Madame Butterfly. Ein klassischer Kammermusikabend wurde mit dem Geiger Prof. Hayas und dem Pianisten Oskar Michaelson veranstaltet, ein weiterer mit Diana BlumenfeldJonas Turkov und Dydio Epsztein mit jiddischen Liedern und Rezitationen. Es folgten mehrere Konzerte des amerikanischen Sängers Herman Yablokoff, begleitet von Tanya Grosman, ein Auftritt der Sängerin Irene de Nuarei sowie Josef Schreier mit seiner Musik-, Gesangs- und Tanzgruppe im Sommer und Herbst 1947. 1948 gab es ein Konzert des Pianisten Michael Taube und der Sängerin Elsa Jülich-Taube, die aus Palästina nach Deutschland zurückkehrte und mit dem Überlebenden Lev Aronson (Cello) auftrat. Im selben Jahr fanden mehrere Musikabende mit Reyne Simon, Lola Folman und Khayele Rozental statt.

In der letzten Phase seines Bestehens kamen nur wenige Künstler in das DP-Lager. Für 1949 ist nur der Auftritt von Niusia Gold zusammen mit dem Pianisten Sheynshneyder bekannt, für 1950 der Auftritt des ehemaligen Kazet-Theater-Mitglieds Sonia Boczkowska, die aus Paris angereist war und mit dem Komponisten  Henech Kon auftrat. Außerdem tourten im Laufe der Jahre mehrere Theater aus anderen DP-Lagern durch Bergen-Belsen, ebenso wie das bekannte Komikerduo Shimon Dzigan und Yisroel Shumakher. 

Die Theater- und Musikaufführungen im DP-Lager Bergen-Belsen waren nicht unumstritten. Diskussionen über die Qualität, das Repertoire, die Herkunft der Künstler und die Reihenfolge der Auftritte gab es zuhauf. Diese Auseinandersetzungen und Diskussionen verdeutlichen die Bedeutung von Musik und Theater und deren Aufführungen. Sie zeigen auch, dass die DPs Musik und Musiker als Identifikationsobjekte wahrnahmen. Während sie sich auf die Auswanderung nach Palästina und in andere Länder vorbereiteten, verbanden Musik und Theater sie mit einer Welt, die nicht mehr existierte.

Quellen

Archiv

Yad Vashem, Jerusalem, Rosensaft-Archiv (YV 0-70).

Zeitungen

Unzer Sztyme (Our Voice), Zentralkomitee der befreiten Juden in der britischen Zone (Hg.), Nr. 1, 12. Juli 1945 - Nr. 24, 30. Okt. 1947.

Vokhnblat (Jüdische Wochenschrift), Zentralkomitee der befreiten Juden in der britischen Zone (Hg.), Jg. 1, Nr. 1, 5. Dez. 1947 - Jg. 4, Nr. 9/80, 18. Aug. 1950.

Sekundärliteratur

Fetthauer, Sophie: "Musik im DP-Camp Bergen-Belsen und ihre Rolle bei der Identitätsfindung der jüdischen Displaced Persons", in: Musikwelten - Lebenswelten. Jüdische Identitätssuche in der deutschen Musikkultur, Beatrix Borchard, Heidy Zimmermann (Hg.) (= Reihe Jüdische Moderne, Bd. 9, Alfred Bodenheimer und Jacques Picard (Hg.)), Köln, Weimar: Böhlau, 2009, S. 365-379.

Königseder, Angelika; Wetzel, Juliane: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a. M.: Fischer, 1994.